Der CSD als Besserungsanstalt?

Neben Bayern und Sachsen gehört auch Baden-Württemberg zu jenen Bundesländern, die sich durch eine unbändige Gier nach Sozialkontrolle und deren Institutionalisierung auszeichnen. Man könnte lachen über die aktuelle Peinlichkeit, die der CSD Stuttgart diesbezüglich zu bieten hat (queer.de vom 24.7.17), wäre es nicht gleichzeitig ein trauriger Beweis, wie weit die Tendenz zur Normierung von LGBT durch eben LGBT vorangeschritten ist und wie weit eine politische Parade bereits zu einem Erziehungsprojekt geworden ist. Dessen Ziel: Schwule und Lesben zu besseren Menschen zu machen.

Zunächst ist da eine arglose Sache: Eine Jury soll beim CSD in Stuttgart am 9. Juli aus den vorbeiziehenden Wagen (Formationen) den besten küren. Kriterien sind politische Botschaft, Kreativität, Umsetzung. So weit, so harmlos. Dann allerdings wird die wahre Intention deutlich, mit einer Wortwahl, die von der Entschlossenheit kündet, künftig die Reihen der Parade noch sauberer zu halten.

„Auffälligkeiten werden dokumentiert und an den CSD-Verein übermittelt. Das ehrenamtliche Organisationsteam sucht anschließend das Gespräch mit der jeweiligen Gruppe und macht Vorschläge für eine Optimierung. Tritt im Folgejahr keine Verbesserung der Berücksichtigung des politischen Aspektes ein, kann dies auf einer Mitgliederversammlung der IG CSD Stuttgart e.V. öffentlich thematisiert werden. Die Vereinsmitglieder entscheiden dann über etwaige Konsequenzen. Denkbar wäre ein verpflichtendes Einreichen von Plänen für die Ausgestaltung der betreffenden Gruppe und eine Freigabe durch das CSD-Orgateam im Vorfeld der Demonstration. Auch ein befristeter Ausschluss von der CSD-Polit-Parade ist möglich.“ (Website CSD Stuttgart; Stand: 25.7.17)

Fatale Erinnerungen vs. Geschichtsvergessenheit

Das harmlose Spiel, den besten Wagen zu küren, endet in einer verwaltungstechnischen Behördensprache, die bestenfalls noch einer verinnerlichten „Fördern und Fordern“-Mentalität geschuldet ist. „Auffälligkeiten“, „Optimierung“, „Konsequenzen“ …  Das sind allerdings eher doppelplusungute Begrifflichkeiten.

Sie erinnern fatal an eine Peinlichkeit des Kölner CSD vor einigen Jahren (S.i.e.g.T. vom 11.2.09), wo die Wagen sowie die Teilnehmenden der Parade ebenfalls überwacht werden sollten. Wer sich danebenbenehme, den wollte man in einem Online-Pranger öffentlich dokumentieren (und – so nie gesagt, aber gemeint – der öffentlichen sozialen Ächtung preisgeben).

Wer definiert den Begriff „Auffälligkeiten“? Ziemlich sicher würde jene Gruppe, die sich 1969 im Stonewall Inn in New York gegen Polizeiwillkür zur Wehr setzte, heutzutage hochkant vom CSD Stuttgart fliegen. Es wäre gut, würde sich das Orgateam des CSD, das diesen seit Jahren fest in seiner Gewalt hat, über die Intention wie auch die Herkunft der Parade zum Christopher Street Day bewusst werden.

Freiwillige Selbstkontrolle

Der CSD ist keine Parade, die dazu da ist, den jeweilig Regierenden zu gefallen. Leider hat gerade in Stuttgart die Nähe zur regierenden Politik in den letzten Jahren beängstigende Ausmaße angenommen. Der CSD ist aber auch keine Parade, in der irgendwer zum besseren Homosexuellen erzogen werden müsste. Der CSD ist nicht dazu da, einer wie auch immer gedachten Mehrheit zu zeigen, dass wir über-ordentliche Menschen sind, die vorauseilend erfüllen, was als „anständig“ vermutet wird. Denunziatorisches Geraune, „Auffälligkeiten“ zu überwachen, heißt in Schwaben ganz konkret, den Nachbarn anzuzeigen, weil der den Müll nicht korrekt trennt. Wer mit einem solch Sprech Teilnehmende eines CSD zum Objekt der Sozialkontrolle macht, dem schwebt eher ein Leichenzug denn eine politisch lebendige Parade vor. Der CSD ist nicht dazu da, eine größtmögliche Zahl zu normieren, zu formieren, zu funktionalisieren und schon gar nicht, sie zu „optimieren.“ Auch nicht, wenn das Ziel „nur“ angepasste Spießigkeit ist.

Bleibt zu hoffen, dass sich die Mehrheit der Schwulen und Lesben von den Allmachtsfantasien der Organisator_*Innen unbeeindruckt zeigt. Ansonsten hilft nur, der Parade fernzubleiben. Denn eine Besserungsanstalt ist wahrlich der letzte Ort, den Homosexuelle sich wünschen sollten. / ©RH

Nachtrag vom 27.7.: Auf der FB-Seite des CSD Stuttgart gibt es eine Verlautbarung, die Jury habe „mitnichten die Aufgabe, sich als ‚Sittenwächter‘ aufzuspielen“. Vielmehr handele es sich um ein gut funktionierendes Gremium, das durch Medien in Misskredit gebracht werde. Eine Erklärung zu den Begrifflichkeiten „Auffälligkeit“, „Konsequenzen“, „Optimierung“ findet sich nicht.

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