Community als Heimat und Aufgabe – Rezension zu Ariane Rüdigers Interviewsammlung „Es gibt noch viel zu tun …“

Aufmacher_Esgibt

Nicht, dass es den Rückzug Volker Becks gebraucht hätte, um das Buch „Es gibt noch so viel zu tun …“ von Ariane Rüdiger empfehlenswert zu machen. Doch wo plötzlich die Frage im Raum steht, wie es um die politische Nachfolge eines so maßgeblichen Vorkämpfers für die Rechte von Schwulen, Lesben und Trans*-Personen bestellt ist, erweist sich die im Querverlag erschienene Sammlung von 36 Interviews mit Macherinnen und Machern der LGBTIQ-Bewegung als idealer Fundus für eine Bestandsaufnahme: Was war, was ist, was wird aus der Community?

Seit über zehn Jahren ist die Journalistin und Schriftstellerin Ariane Rüdiger auch für das „forum homosexualität münchen e.V – Lesben und Schwule in Geschichte und Kultur“ tätig. Ihre Gespräche mit engagierten Menschen wurden zunächst in lockerer Folge auf der Internetseite des Querverlags unter der Rubrik „Alltägliche Held_innen“ veröffentlicht. Menschen, die in Vereinen und Verbänden arbeiten bzw. wirken, Journalisten, Künstlerinnen, Eventmanagerinnen, schwule Soldaten und lesbische Ausstellungs-macherinnen kommen ebenso zu Wort wie Schwuhplattler oder Guerilla-Gärtnerinnen. Neben den persönlichen Lebensläufen, den Motiven für ihr Engagement befragte Ariane Rüdiger ihre Gegenüber auch nach deren Einschätzungen und Ideen, wie es mit der Szene an sich weitergehen könnte.

Vereint in einem Band, ergibt sich daraus ein vielfältiger und vielstimmiger Chor. Mal beeindruckt die Lebensleistung, mal beeindruckt die persönliche Haltung, mal nickt man beim Lesen zustimmend, mal hinterlässt der oder die Porträtierte nicht nur ein Fragezeichen auf der Stirn.

„Community muss auch weiterhin eine Heimat sein“

Mir persönlich gefiel, dass „Urgestein“ und Lieblingsbuchhändler (neben Rolf, aber das ist eine andere Geschichte!) Peter Hedenström, Mitbegründer der Buchhandlung Prinz Eisenherz, den Auftakt macht. Ungewöhnlich spannend fand ich Lucie Veith vom Verein Intersexuelle Menschen, vielleicht auch, weil ich im Internet Beiträge zur Thematik viel zu schnell wegklicke. Nachdenkliches finde ich beim Interview mit Constance Ohms über häusliche Gewalt in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften bzw. Gewalt unter LGBT allgemein. Sie fordert, dass das Thema nicht weiter tabuisiert und mit dem Schleier der „Privatheit“ belegt, sondern Gegenstand ‚unserer‘ Emanzipationspolitik wird. In einer Formulierung von Conrad Breyer, Pressereferent des Münchener „Sub“, fand ich eigene Einschätzung und Hoffnung wieder: „Community muss für Lesben, Schwule und Transgender auch weiterhin eine Heimat sein und bleiben. Sie muss mit ihren Einrichtungen erhalten bleiben, nicht nur für Engagierte, sondern auch für Ratsuchende. Mir jedenfalls gibt ihr Vorhandensein Halt – das hat etwas Identitätsstiftendes.“

Gleichzeitig sehen nicht wenige Gesprächspartnerinnen und -partner diese „soziale Heimat“ in Gefahr, glauben aber letztlich doch, „dass die Szene in veränderter Form“, wie es Ariane Rüdiger im Nachwort resümiert, „als Ort des Kennenlernens und des gesellschaftlich-(sub)kulturellen Austausches bestehen bleiben wird“. Ein Bedürfnis nach offeneren Rollenkonzepten und Solidarität mit anderen gesellschaftlichen Gruppen, nicht zuletzt LGBT in anderen Ländern, zeichne sich ab. Dies auch und gerade in dem Bewusstsein, dass Schwule und Lesben in den letzten Jahrzehnten maßgeblich zu positiven Veränderungen in der Gesellschaft beigetragen haben.

amnesty wollte lange nicht für verfolgte Schwule und Lesben eintreten

Um die Interviewsammlung aber auch etwas kritisch zu kommentieren: Mir fehlte beispielsweise im Gespräch mit Rupert Haag, Sprecher der Koordinationsgruppe queeramnesty ein Blick auf jene Zeit, in der sich die Menschenrechtsorganisation amnesty vehement weigerte, Fälle von verfolgten Schwulen, Transsexuellen und/oder Lesben überhaupt anzunehmen. Hier wird letztlich die auch von der Autorin selbst vertretene These von der Bedeutung des Wissens um die eigene Geschichte unterlaufen.

Das im Vergleich mit anderen eigenartig kurze Interview mit Bernhard Müller vom Münchener Magazin „Leo“ verpasst die Chance, über die Rolle von schwul-lesbischen Medien und Journalismus in der Vermittlung von (progressiven) Themen und in der Verfertigung eines Bildes von Homosexuellen zu reflektieren.

Für LGBT in Deutschland ist das Wirken von Manfred Bruns, Ex-Staatsanwalt und Sprecher des LSVD, möglicherweise von größerer Bedeutung als das von Volker Beck. Gut, dass er und sein Beitrag zum Zustandekommen des Lebenspartnerschaftsgesetzes in einem ausführlichen Interview gewürdigt wird. Trotzdem hätte man sich an der Stelle, wo er bedauert, dass junge Lesben und Schwulen sich aufgrund der (gefühlt) geringeren Diskriminierung weniger in Verbänden wie dem LSVD engagieren, ein Nachhaken über das Erscheinungsbild eben dieses LSVD – zumindest mancher seiner Landesverbände – gewünscht.

„Wie wollen wir in Zukunft leben?“

Doch all diese Anmerkungen sprechen nicht gegen das Buch und die Interviews, sondern zeigen ja nur, dass weiteres Fragen, Nachfragen, Weiterdenken, anders Denken unerlässlich bleibt. Ariane Rüdigers Interviewsammlung ist in ihrer Gesamtschau und ihrem Facettenreichtum ein solides Fundament. Sie ist im besten Sinne eines jener Bücher, die man lange Zeit auf dem Tisch neben Sessel, Sofa oder Bett liegen lassen darf, um sie immer wieder mal zur Hand zu nehmen: als geistreiche Lektüre, als Einblick in vielfältige Biografien und Gedanken und – nicht zuletzt und hoffentlich – als Inspiration fürs eigene Handeln. Denn auch wenn wir es eigentlich wissen, muss es ab und an erneut gesagt werden: „Es gibt noch viel zu tun …“!

Buchinfo: Ariane Rüdiger: „Es gibt noch viel zu tun …“ – Macher und Macherinnen der LGBTIQ-Bewegung. 272 Seiten, 16,90 €, ISBN 978-3-89656-243-2.