Vor der Party

Berliner-PfannkuchenIm Gegensatz zum Weihnachtsfest und den Feiertagen scheint der gewöhnliche Homosexuelle mit Silvester/Neujahr weniger Stress und weniger mentale Probleme zu haben. Jedenfalls scheint es kaum Studien, Beiträge zu geben, die den Wechsel ins neue Jahr thematisieren. Das liegt natürlich vor allem an der Art des Feierns: Während Weihnachten für den (freiwilligen oder erzwungenen) Rückzug in das (beglückende oder betrübende) Geflecht von familiären Zwängen, sozialen Normen steht, ist Silvester die Wendung ins Außen, ins Öffentliche. Das Sittsame und Betuliche im Zeichen des Weihnachtsbaums darf hinter sich gelassen werden zugunsten des Rauschhaften, des Anonymen, zugunsten der Menge, kurzum: zugunsten der Party, jener zentralen Institution schwuler / queerer Existenz.

Ach ja, was hält die schwule Geschichte nicht alles an Party-Mythen und Party-Erlebnissen bereit: die Tuntenbälle, die Ledertreffen auf der Cap San Diego, die Party zur queeren Filmnacht, die Schlager-Party, die Ü30-, die U20-Party und neuerdings, wie es scheint, sowieso nur noch Chemsex-Partys.

Und gerade dort, wo Schwulsein im Alltag eher eine einsame Kiste ist, ist es schlichtweg toll, sich auf einer Party nicht mehr als Einzelkämpfer fühlen zu müssen, sondern zu sehen, zu spüren, zu erleben, dass man nicht allein ist und es so viele andere gibt, die so anders sind wie man selbst! Und sie wollen tanzen, Spaß haben, flirten und das Zusammensein genießen. Das Versprechen der Silvesternacht ist, sein zu dürfen wie man will – im Schutz der Masse und des magischen Moments um zwölf.

Naja, fast … so wurde etwa ein queerer Jugendclub in Berlin-Neukölln im Oktober von Schlägertypen bedroht, u.a. mit der Ansage, dass der Club „spätestens zu Silvester sowieso brennt“.

Eine Erinnerung daran, wie viele schwule Partys heimlich stattfanden, nur im Verborgenen stattfinden konnten. Treffen, wo Anonymität noch überlebensnotwendig war und nicht Teil eines hippen urbanen Lebensgefühls. Auch dies gehört zur schwulen Geschichte. Und zur Lebenswirklichkeit heute gehört, dass unsere Safer Spaces selbst nicht unbedingt immer sicher sind, aber wir unsere öffentliche Sichtbarkeit nie wieder preisgeben dürfen.

Partys sind ein zentraler Bestandteil der Vergemeinschaftung, der Formung dessen, was wir als Community verstehen, und deswegen essenzieller Teil unserer Geschichte und unseres heutigen Lebens.

Der Mangel der Party ist ihre Kurzlebigkeit und letztlich ihre Bedeutungslosigkeit. Es sei denn, sie wird aus welchen Gründen auch immer zu einem Mythos, der weitere Partys inspiriert. In den großen Zentren versuchen die großen Partys ihre Flüchtigkeit durch (meist inflationäre) Wiederholung zu kompensieren, quasi als auf Dauer gestellte Einmaligkeit.

Auch hinsichtlich des Einzelnen wird die Party als Institution meist maßlos überschätzt. Das große Wir-Gefühl neigt zur Ignoranz gegenüber dem ganz persönlichen Wunsch nach Zugehörigkeit zu einer überschaubaren Gruppe, gegenüber der Sehnsucht, jemandem zu begegnen, der auch nach der Nacht bei einem bleibt. Gerade dieses allzu menschliche Begehren bleibt auf den meisten Partys unbefriedigt, mögen sie noch so grandios und rauschhaft sein. Letztlich möchten wir ja doch in unserer Individualität und Persönlichkeit, unserer Einzigartigkeit wahrgenommen werden. Das muss eine flüchtige sexuelle Begegnung nicht ausschließen, aber wohltuende Aufmerksamkeit und echtes menschliches Interesse aneinander können da locker mithalten und sind möglicherweise der tieferliegende Wunsch. (Es ist übrigens durchaus ein wenig rätselhaft, dass ausgerechnet in Kathedralen der Anonymität wie Berlin die anonyme Mega-Party das Maß aller Dinge zu schein scheint.)

Gute queere Partys jedenfalls – ihre Organisatoren wie die Besucher*innen – entfalten jenen Raum, in dem „Wir“ aufeinander achten, uns wahrnehmen und wertschätzen (können) auch und gerade in der rauschhaften Masse. Also eigentlich das, was wir uns auch für das ganze Jahr und unseren Alltag wünschen.

2 Antworten to “Vor der Party”


  1. 1 Mayk Dezember 30, 2022 um 6:08 pm

    Lieber Rainer, komm gut ins neue Jahr! Und Danke für all die schönen Texte und nachdenkenswerten Impulse hier auf dieser Seite.

  2. 2 RH Dezember 30, 2022 um 7:17 pm

    Auch dir ein gutes 2023, lieber Mayk! Ich freu mich auf neue Texte in deinem Blog!


Comments are currently closed.



Archiv

Der Samstag anderswo

Der Samstag empfiehlt

Der Samstag empfiehlt


%d Bloggern gefällt das: