Ein grauer Morgen am Heiligen Abend. Es regnet leicht. Ich trinke Kaffee. Eigentlich muss ich heute nicht mehr raus, ich habe alles eingekauft, was ich für das lange Weihnachtswochenende brauche. Auch die kleinen „Pflichten“ sind erledigt: Schon letzte Woche habe ich 2 Päckchen zur Post gebracht, Anfang dieser Woche Weihnachtsbriefe und Weihnachtspostkarten verschickt. Einer Freundin habe ich am Mittwoch noch Plätzchen, Äpfel und Clementinen vorbeigebracht, mit einem schwulen Freund noch einen Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt vor dem Schloss getrunken. Donnerstag war ich mit meinem Schwager im Restaurant essen; er nahm die kleine Geschenktüte mit Plätzchen, Weihnachtstee und ein paar Gläschen vegetarischer Brotaufstrich für meine Schwester mit, als er abends mit der Bahn nach Süddeutschland zurückfuhr. Der gestrige Yoga-Kurs fiel wegen Erkrankung der Leiterin aus. Schade, ich hätte sie und „die Jungs“ der Yoga-Truppe gern nochmal gesehen vor dem Fest. Vielleicht wären wir anschließend auch zusammen noch was trinken gegangen. Darf nicht vergessen, Anfang Januar den Beitrag für ein weiteres Jahr im queeren Sportverein zu überweisen!
Heute ist Samstag, Heilig Abend – und ich werde den Tag allein verbringen. Wenn es aufhört zu regnen, werde ich gegen Mittag vielleicht noch eine Runde im Park drehen und auf dem Rückweg auf der Bank noch etwas an die Suppenküche eines Franziskanerklosters überweisen. Auch für eine queere Einrichtung, ein queeres Projekt will ich noch etwas spenden, bin mir aber unschlüssig, wofür. Was mir klar macht, wie dünn meine Beziehung zur Community ist und wie unklar mir ist, welche der zahlreichen, zweifellos alle wichtigen Gruppen, die für unsere Community aktiv sind, mir persönlich wichtig ist und unterstützenswert erscheint. Nachmittags werde ich schwäbischen Kartoffelsalat machen; dazu gibt es Maultaschen (nicht selbst gemacht). Wahrscheinlich wird zu dieser Zeit meine Schwester anrufen und mir erzählen, dass sie gerade Kartoffeln für ihren schwäbischen Kartoffelsalat schält. Den Weihnachtsgottesdienst werde ich meiden, weil ich mich nicht einsam fühlen will zwischen all den aggressiven Helikoptereltern und in einer christlichen Gemeinde, der ich als schwuler Single egal bin. Möglicherweise – und wenn ich nicht zu müde bin – gehe ich um 23 Uhr in die Christmette. Da ist es meist sehr ruhig, sehr freundlich, und man kann fast schon meditativ schöner Musik (Bach?) lauschen.
Ich weiß, dass sehr viele Schwule und Lesben sich schwertun mit der Weihnachtszeit. Nicht nur aus Ablehnung der christlichen Kirchen und aus Schmerz und Wut über deren Schuld an der Verfolgung und Diskriminierung von Homosexuellen. Sondern auch, weil das „Familienfest“, der private Rahmen, zur Herausforderung werden kann. Vor allem Jüngere, noch ungeoutete LGBTIQ, fühlen sich möglicherweise zum Schweigen, Verheimlichen genötigt. Weihnachten wird, gesamtgesellschaftlich orchestriert, zu einem Kulminationspunkt, überladen von Sehnsüchten, Idealvorstellungen, Normen und zwanghaften Ritualen. Was sehr schade ist, denn das Fest der Geburt Jesu ist nun gerade kein Showdown, gerade keine „Es muss alles perfekt sein“-Überlieferung, sondern ein Anfang, ein Aufbruch, dem viel Verletzliches, aber auch Segen innewohnt. Bis heute hat die queere Community kaum eigene Konzepte für ein anderes Weihnachten, ein Weihnachten der schwulen Singles, der Wahlfamilien ersonnen, sondern, wie es halt so ist, sich an die heteronormativ-christliche Vorgabe anzuschmiegen versucht.
Ich habe meinerseits ebenfalls keine Anstalten gemacht, für den Heiligen Abend etwas zu planen, zu organisieren. Das hat auch damit zu tun, dass die letzten Wochen sehr arbeitsreich waren und ich eigentlich froh bin, mal eine Weile Ruhe zu haben. Ich werde diesen Tag alleine verbringen und das macht mich weder besonders glücklich noch besonders traurig. Es gab mal, nach dem Tod meines Bruders, ein Weihnachten, an dem ich nicht feiern wollte und allein bleiben wollte. Da war der Heilig Abend schlimm. Nachmittags, um die Zeit, da anderswo die Lichter angingen, das Essen auf den Tisch gestellt wurde, da Geschenke ausgetauscht wurden – in den meisten Haushalten ist das die Zeit zwischen 17 und 19 Uhr -, da wurde es persönlich richtig schlimm. Da war ich wirklich einsam und voller schmerzlicher Trauer. Doch auch das ging vorüber. Heute würde ich mir – Dank des oben erwähnten Yoga-Kurses! – sagen: Weiteratmen! Atmen! Nach Luft schnappen! Was im Übrigen das ist, was Neugeborene tun, wenn sie aus dem Schoß der Mutter in diese Welt kommen. Weihnachten steht für das Ereignis einer Geburt. Für andere Religionen ist es die Wiederkehr des Lichtes, verknüpft mit dem astronomischen Ereignis der Wintersonnenwende. Es ist kein Fest, an dem man sich schämen oder schlecht fühlen muss, und schon gar kein Fest, an dem man sich sagen lassen muss, wie man sein Leben zu leben habe. Es ist ein Anfang, vielleicht auch einfach nur ein ganz normaler Tag, dem weitere Tage folgen werden.
Es ist ein grauer Morgen am Heiligen Abend. Ich werde diesen Tag allein verbringen.
Wunderschön geschrieben, lieber Rainer. Ich kann alles nachfühlen. So ging es mir in meinen Berliner Jahren auch. Und die Suppenküche ist ein tolles Projekt, da spende ich auch gerne hin. Gott vegelt’s! ER ist ja sowieso immer da und sitzt mit bei Dir am Tisch. ❤️ Von Herzen frohe Weihnachten!
Dankesehr fürs Lob, lieber Mayk – und auch dir gesegnete Festtage!