Irrungen und Wirrungen – Christoph Heins Roman „Verwirrnis“ über eine homosexuelle Liebe in der DDR

Deutschland, Anfang der fünfziger Jahre: Als Wolfgang und Friedeward, die beiden Protagonisten des Romans, von Friedewards Vater in flagranti miteinander im Bett überrascht werden, versucht Wolfgang die Situation mit Verweis auf Thomas Mann zu retten. Sie hätten doch nur ausprobieren wollen, was sie in Büchern gelesen hätten, etwa in Tonio Kröger oder in Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Die Literatur wird den beiden jungen Männern aber als Ausrede nichts nutzen: Wolfgang muss die Stadt verlassen und auf eine andere Schule gehen, Friedeward wird von seinem Vater Pius (!) blutig gepeitscht. Doch mit den literarischen Verweisen sind gleich zu Beginn Themenfelder benannt, die den neuen Roman von Christoph Hein prägen: der Versuch, Homosexualität (Künstlertum) mit der bürgerlichen Welt zu vereinbaren und die Verstrickung in die gesellschaftlichen Mechanismen von Gewalt, Kontrolle, Unterwerfung.

Es ist eine schnörkellose und auch ein wenig rastlose Chronik, die der Schriftsteller ausbreitet. Er beschreibt die Liebe zweier junger Männer im thüringischen Heiligenstadt, den Zwang zur Heimlichkeit wie die Versuche, den restriktiven und kriminalisierenden Strukturen Freiräume abzutrotzen. Das Studium in Leipzig, wie es sich für Homosexuelle gehört Kirchenmusik und Literatur, erleichtert dies einerseits, andererseits stellen sich neue Hürden. Wolfgang erwägt schon früh eine Heirat als „Versicherung, nicht ins Gefängnis zu kommen“. In Leipzig lernen sie ein lesbisches Pärchen kennen, das sich bald – eine der beiden Frauen ist Dozentin an der Uni – mit Gerüchten konfrontiert sieht, die ebenfalls durch eine Heirat mit einem Mann ausgeräumt werden könnten. 1957 werden sie in der Silvesternacht darauf anstoßen, dass in der DDR das Strafrecht geändert wird und homosexuelle Handlungen nicht länger bestraft werden. Und alle vier sind sich im Klaren darüber, dass eine Rechtsänderung noch lange nicht die Moral und die ablehnende Haltung der Menschen ändern wird. Der Mauerbau beeinflusst dann die Beziehung von Wolfgang und Friedeward nachhaltig und der Mauerfall fügt die Dinge nicht unbedingt so, wie erhofft.

Christoph Heins Chronik einer schwulen Liebe und Lebens ist zugleich auch eine Chronik der DDR, zumindest werden Eckpunkte der Geschichte eingestreut. Zugleich gibt es einen weiteren, eher heimlichen Protagonisten, den Leipziger Professor, der von allen „Goethe-höchstselbst“ genannt wird. Gemeint ist der Literaturwissenschaftler Hans Mayer, der in Leipzig dozierte, dann aber zunehmend mit den Machthabern in Konflikt geriet und 1963 nach Westdeutschland ging. Seinen richtigen Namen nennt Christoph Hein jedoch so wenig wie dessen Homosexualität. Was erstaunlich ist für einen Roman, der sich doch um Homosexuelle dreht. Und wer mit Thomas Mann und Robert Musil Zeichen setzt, hätte dies auch mit Mayers Hauptwerk Außenseiter tun können, das sich 1975 mit der Darstellung von Juden, Frauen und schwulen Männern in der Literatur beschäftigte. Gleichwohl wird „Goethe-höchstselbst“ zu einer für Friedeward prägenden Figur, sein Mentor, und später auch zu einer Bedrohung der universitären Karriere, denn die Nähe zu einem kritischen „Republikflüchtling“ wird inquisitorisch verfolgt.

Am Ende des Romans steht unter anderem die Erkenntnis, dass es nicht immer der Peitsche bedarf, um Menschen zu „prägen“, sondern dass dies auch durch Überwachung, Informationen und Wissen geschieht, wobei sich Letzteres gerade dann mächtig erweist, wenn der Betroffene unter allen Umständen ein Geheimnis verschweigen will. Und selbst dann, wenn die Bedrohung sich doch eigentlich längst als handhabbare Chimäre erweisen müsste. Die Scham, gerade im Falle Friedewards, ist einfach zu groß. Dazu passend ließe sich die Schlussszene in Heins Verwirrnis als traurig-ironisches Plädoyer für mehr fröhliche Sichtbarkeit lesen – und es ist an zwei Lesben, dies zu demonstrieren!

In Verwirrnis geht es weit mehr als um Homosexualität letztlich um die Verstrickungen der Menschen in Gesellschaft, Geschichte (hauptsächlich der DDR) und in ihren Gefühlen. Christoph Hein schreibt knapp und angenehm klar. Allerdings auch chronistenhaft straff. Mit wenig Ruhe eilt der Roman von einem zum nächsten Moment in der überblicksartigen Biografie der Protagonisten. Zweifel, Ängste, Sehnsüchte werden eher notiert als lange erzählt. Verwirrnis berichtet von menschlichem und gesellschaftlichem Wirren im oder auch gegen den Lauf der Zeit – einerseits elegant, so dass die Lektüre gefällt, andererseits so aufgeräumt, dass wenig Verwirrnis zurückbleibt. / ©RH

Christoph Hein: Verwirrnis. Roman. Suhrkamp Verlag 2018, 303 Seiten, 22 Euro, ISBN: SBN: 978-3-518-42822-1.


Archiv

Der Samstag anderswo

Der Samstag empfiehlt

Der Samstag empfiehlt


%d Bloggern gefällt das: