Verlässlich wie das Weihnachtsfest erscheint alljährlich ein Band der Text/Bild-Anthologie „Mein schwules Auge“ im Konkursbuch Verlag. Nur früher, meist zur Buchmesse im Oktober. „Mein schwules Auge“ ist ein mehr als 300 Seiten dickes, überbordendes Sammelsurium eingereichter Texte / Bilder – vom Gedicht über den soziologischen Essay bis zur Sex-Story, von edler Nacktfotografie in Schwarz-weiß bis zum Comic -, lose zusammengehalten durch ein Motto oder eine Fragestellung der Herausgeber Axel Schock und Rinaldo Hopf.
Im nun vorliegenden elften Band ist es die Frage, wie es aktuell um unsere Freiheit zur sexuellen Selbstbestimmung bestellt ist. Dies vor dem Hintergrund politisch-juristischer Erfolge auf dem Weg zur Gleichstellung einerseits und dem scheinbar anwachsenden reaktionären Widerstand, hierzulande und weltweit, andererseits. Wie schon in meinen letzten Rezensionen zu Ausgaben von „Mein schwules Auge“ konzentriere ich mich auf die Texte des Buches, und hier vorallem auf die „Sachtexte“. Sexgeschichten locken mich persönlich weniger und beim reichhaltigen Bildteil des Bandes neige ich eher zum stillen Genießen denn zum verbalen Analysieren fürs Blog!
Es fällt auf, das Freiheit in den literarischen Texten sehr stark mit der Erfüllung des persönlichen (sexuellen) Glücks verknüpft ist. Wobei die Unsicherheit, dass auch „in Freiheit“ das Glücksversprechen zerbrechlich bleibt, vielen der Erzählungen einen melancholischen Ton verleiht. Der Liebhaber bleibt oft nicht länger als eine Nacht.
Freiheit ist nur anderswo bedroht
Eine Momentaufnahme aus der DDR 1988 ist Levi Frosts Erzählung „Fremde Ufer“, in der schwule Sehnsucht zwar mit der Sehnsucht nach gesellschaftlicher Freiheit einhergeht, die aber- was mich zugegebenermaßen irritiert hat -, hauptsächlich als Wunsch nach Reisefreiheit von den Protagonisten formuliert wird.
Versuche ich, der Leitfrage nach Freiheit und Selbstbestimmung in den „Sachtexten“ nachzugehen, ergibt sich für mich das Bild, dass es in Deutschland kein Problem mit der Freiheit gibt, zumindest nicht in einem politischen Sinn: Natürlich werden alle Texte (übrigens auch viele der literarischen Texte) von einem Wunsch nach Gleichstellung durchzogen. Aber konkrete Themen wie Adoptionsrecht, Hass-Kriminalität, Internet/Privatsphäre oder die Notwendigkeit von „geschützten Räumen“ für LGBT tauchen gar nicht auf. Probleme scheint es nur anderswo zu geben, wobei „Anderswo“ etwa als Russland, Indien, oder USA erscheint.
Den westeuropäischen Blick bereichern kurze Texte wie etwa die des slowenischen Autors Brane Mozetic. Roland Brodbeck erinnert in einem Auszug seines – im Querverlag erschienenen – Romans „Der Sieger von Sotschi“ an die Situation von LGBT in Russland. Karsten Brabänder schildert in „Frei wie ein Vogel“ die kurze Beziehung eines Deutschen zu einem Vietnamesen, Linh, und konfrontiert mit der Tatsache/Beobachtung konfrontiert, dass andere Kulturen dem Zusammensein eine andere Wertigkeit geben, als wir es mit unserem westlichen Konzept von Liebe erwarten. Im Interview stellt Mitherausgeber Rinaldo Hopf den 67-jährigen Ganesh aus Sri Lanka und dessen gleichaltrigen Schweizer Lebensgefährten Nicolas vor. Etwa die Hälfte des Jahres leben sie gemeinsam in Südindien. Während sie dort ihre Beziehung eher heimlich („diskret“) leben, ist der 41-jährige Balbir Krishan ein Beispiel für das gewachsene Bewusstsein der „nächsten Generation“. Balbir Krishan ist ein offen schwuler Künstler, der mit seinem New Yorker Partner verheiratet ist und in New Delhi lebt. Auch ihn hat Rinaldo Hop interviewt.
In „It’s My Party“ verweist ein Autor mit dem Pseudonym Schwulbuch auf die historische Boston Tea Party und wundert sich über den erzreaktionären Backlash durch jene, die heute unter dem Namen Tea Party u.a. die Gleichstellung von Trans-, Bi- und Homosexuellen bekämpfen. Wurde 1773 also der Tee umsonst verschüttet? Schwulbuch wünscht sich ein Ende der repressiven Gesetze wie des (lust-)feindlichen Klimas, damit „der Tee wieder nach Freiheit schmeckt“.
Noch jede Menge Gängelung
Während bei Schwulbuch eher unklar bleibt, wie sich die konstatierte Repression im Detail in seinem Leben auswirkt, arbeitet sich Jan Gympel am repressiven Kontrollwahn der Gesellschaft ab. Er beschreibt, wie im Namen des Jugendschutzes und der sozialen Korrektheit nicht nur Literatur für Kinder umgeschrieben wird, sondern auch die Kinder in nahezu allen Bereichen – vom Essen bis zur erwachenden pubertären Sexualität – gemaßregelt werden. So viel Schutz, damit alle glücklich und gesund sind? Gympels beißend-ironischer Schlusssatz: „So frei wie heute waren wir noch nie!“ Freiheit, so würde ich es interpretieren, kann auch die Freiheit zur (Selbst-)Normierung werden.
Damit sind wir in Deutschland angekommen: Blogger Johannes Kram schreibt über „Schwule in der medialen Öffentlichkeit“. Er lotet am Beispiel eines Songs des Entertainers Stefan Raab die Grenze von „über etwas lachen“ und „etwas lächerlich machen“ aus und fragt nach der Rolle, die Schwule in der Produktion eines medialen Bildes haben: „Schwule in der medialen Öffentlichkeit funktionieren im Rahmen eines Deals, über dessen Einhaltung die Schwulen mindestens genauso wachen wie die Heteros: Ihr dürft dabei sein, aber treibt es nicht zu weit. Seid lustig. Und vor allem keine Spielverderber!“
Frei, aber bitte nicht zu weiblich
Wer sich im Rahmen dieser von Johannes Kram skizzierten Norm bewegt, hat also nichts zu fürchten? Tatsächlich kratzt nur noch wenig am gepanzerten Ego des schwulen Mannes, es sei denn das Andere, das Feminine in Gestalt von Trans-Personen:
Uli Meyers Interview mit einem Trans-Mann dreht sich weniger um die Hintergründe für dessen Entscheidung, das Geschlecht zu wechseln, als dessen Erfahrungen mit schwulen Männern, die mit ihm Sex haben / haben wollen und sich nun mit einer Vagina konfrontiert sehen. Illustriert findet sich die Thematik im „Schwulen Auge“ auch in einem 6-seitigen Comic des Brooklyner Zeichners Bill Roundy.
In Ergänzung dazu stehen die Gedanken von Muschimieze über „Die Angst vor der Frau im Mann“: „Viele junge Menschen aus meiner Generation sagen von sich, dass sie Homosexualität zumindest tolerieren, sobald es jedoch um das Überschreiten gewisser Gender-Normen geht, fühlen sie sich angeekelt oder gar bedroht. Sei schwul, aber bitte keine Schwuchtel. Die Möglichkeit, dass der Mann den vermeintlich femininen Part übernimmt, erscheint oft befremdlich. Und das ist nicht nur beim Sex oder in Partnerschaften so.“
Der Weg zur Freiheit
Auf nachdenkwürdige Weise gefriert in der Sammlung ein kurzer, einseitiger Text von Dirk H. Wilms. „Ich trage Aids in meinem Gesicht“ ist ein Statement, wie die Fotografie dem Autor bei der Bewältigung der HIV-Diagnose half. Innerhalb des ganzen Bandes wird es aber auch zu einer Erinnerung an eine Zeit, da die Freiheit (nicht nur) der schwulen Welt tatsächlich bedroht schien, da die Angst das Leben der Schwulen jahrelang bestimmte. Das Paradox ist, dass der Kampf gegen HIV und gegen die Angst ein wesentlicher Motor der Etablierung dauerhafter Organisationen/Strukturen war, die unsere Freiheit auch heute noch zu einem nicht unerheblichen Teil absichern. Die Erinnerung daran scheint zu verblassen, während die Konturen, was Freiheit, was Selbstbestimmung im Hier und Heute sein kann, auch nach Lektüre der Texte in „Mein schwules Auge 11“ unscharf bleiben bzw. bleiben müssen. / ©RH
Angaben zum Buch: „Mein schwules Auge 11“, hg. v. Rinaldo Hopf (Bild) & Axel Schock (Text), Konkursbuch Verlag, Herbst 2014, 320 Seiten, Preis: 16,80 €. – Erhältlich über die Buchhandlung des Vertrauens oder auch über gaybooks.de (Deutschland) oder bei loewenherz.at (Österreich).
Vielen Dank für die wunderbare Vorstellung des neuen „Schwulen Auges“. Es freut uns sehr.