Um den 31. Oktober herum werden auch in schwulen Kneipen und Diskotheken Halloween-Partys auf dem Programm stehen. Zentral sind dabei das billige, trashige Verkleiden und die Gelegenheit, sich daneben zu benehmen. Da kann es einem durchaus gruseln. Halloween ist karnevaleskes Treiben mit morbidem Hauch, das weder mit Totenkult und Geisterglauben zu tun hat, noch mit irgendeiner Form von Spiritualität. Schade eigentlich! Seit Tagen spukt in meinem Kopf die Frage herum, welche magischen Momente die schwule Welt denn überhaupt bereithält.
Besonders in der Normalität?
Es gab eine Zeit, in der nannten sich schwule Männer selbst die Verzauberten. Ein Wort aus den Zeiten, da Schwule wirklich noch im finsteren Wald der Kriminalisierung hausten. Aber einmal abgesehen vom Zwang zur Heimlichkeit – schwang in der Benennung und dem Selbstbild vielleicht noch ein Moment des Besonderen mit, der Verwobenheit in eine magische, märchenhafte Welt, die anderen verschlossen blieb?
Falls ja, dann ist es uns heute völlig fremd. Viele Schwule wollen betont nicht besonders sein. Schwulsein vollzieht sich im sehr grellen Licht der Öffentlichkeit. Politische Erfolge in der Gleichstellung, die Ausdifferenzierung der schwulen Welt in all ihre Einzelgruppen, die – zumindest in Deutschland – erfolgreiche Etablierung und die enorme Professionalisierung einer schwulen Infrastruktur … Wo soll da noch ein Zauber innewohnen?
Schwule Welt ist heutzutage zunächst und vor allem: nüchterne Organisation und Vollzug des Vorgeschriebenen! Und doch, manchmal kann man sich wundern, dass alles so gekommen ist. Die stillen Momente einer inspirierenden Nachdenklichkeit scheinen mir im Dauertrubel der Szene abzunehmen. Aber gibt es stattdessen nicht diese zauberhaften Momente auf einem CSD oder einem Straßenfest, in denen man dasteht und denkt: „Es ist wunderbar, Teil all dieser schönen und tapferen und selbstbewussten Menschen zu sein“? Und dann tanzen und feiern alle wie verhext – aber nicht im dunklen Wald, sondern am helllichten Tag.
Coming-out und Fetisch
Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, heißt es im Hesse-Gedicht. Das trifft ganz besonders für die erste Zeit nach einem gelungenen Coming-out zu. Sollte man den Schrank nicht über die Rückwand verlassen, dort liegt im Fantasy-Roman die andere Welt, die Vordertür führt ja zurück in die alltägliche, normale Welt? Egal, der Schritt heraus belebt und beflügelt. Man möchte die Welt umarmen und macht sich auf die Suche nach dem Traumprinzen. Oder nimmt’s die Jugend heute mit ihrer steinalten Abgeklärtheit gelassen und selbstverständlich?
Meine ersten Jahre: die fiebrige Nervosität beim Aufledern zuhause, auf dem Weg in die Lederkneipe. Der wichtige Moment des Über-die-Schwelle-Tretens, das Verlassen der normalen Welt, das Eintauchen in eine andere Welt mit all ihren männlich-wunderbaren Verlockungen. (Ja, ja, manchmal machte einen der Zauber auch zum Schwein!) Gerade der Leder-Fetisch, das Schlüpfen in eine andere Haut, die Besetzung von Objekten mit magischen Kräften ist rational gar nicht erklärbar. Und heute bleibt mir der Fetisch junger Leute für Sporthosen und Nike-Turnschuhen unerklärlich. Man muss nicht alles verstehen in der schwulen Welt.
Romantik?
Gibt es noch einen Zauber der Liebe? Jenes zärtlich-ängstliche Sich-näher-kommen im Mondschein ohne zu wissen was passiert, oder ist es nur altmodische Romantik-Folklore in einem rastlosen Dasein zwischen Fitnessstudio, Pediküre, Businesscoachseminar und 5 neuen Anfragen im „sozialen Netzwerk“? Im Zeitalter permanenter Rasterfahndung via Gayromeo & Co. kann man sich nicht so sicher sein. Das Licht des Handy-Displays ruiniert jedes silbern-geheimnisvolles Mondlicht. Erzählt man sich noch Geheimnisse oder googelt man, was man über den Partner wissen will? Folgt man so manchem Ratgeber, weichen Liebesbeschwörungen immer rascher dem routinierten Ausverhandeln der Details einer Beziehung – man hat ja schließlich noch andere Dinge zu tun! Gegen so viel Schwarzsehen hilft der Blick in die Kristallkugel – und siehe da: Männer werden sich auch weiterhin verlieben, und dann benehmen sie sich tatsächlich wie die letzten, aber süßen Trolle oder hüpfen wie Elfen. Es passiert vielleicht weniger als früher (zumindest wenn man in meinem Alter ist), aber wenn, dann wäre man ja verflucht, wenn man das Glück nicht genießen würde.
Und immer wieder … Sex?
Guter Sex ist natürlich immer ein magischer Akt. Zumindest der Sex, bei dem das Kribbeln nicht das Zeichen ist, dass die Wirkung irgendeiner Pille einsetzt. Andererseits: Haben Hexen einst mit Kräutern, Pilzen, Sprüchen und Salben nicht auch die Libido befeuert? Nur dass man heute nicht zur Hexe, sondern zum Dealer oder zur Apotheke des Vertrauens geht. Hat sich mit den Normvorgaben von Selbst- und Körpermanagement, der Dauerforderung nach Flexibilität und Mobilität – sichtbar besonders in den Zauberspiegeln von Facebook, Gayromeo und Grindr – nicht eine männliche Effizienz-Kultur durchgesetzt, die andere Menschen nur nach deren Verfügbarkeit für die Befriedigung mit sich selbst vorher abgeklärter Vorgaben beurteilt. Vielleicht. Darum ist Sex, der anders kommt als geplant und einem trotzdem den kleinen Tod und die Verschmelzung mit einem anderen Menschen beschert, immer noch teuflisch gut.
Magie ist flüchtig
Wie heißt es in einem Song von Joni Mitchell so treffend: „Ich kaufte mir eine Kerze für mein Liebesglück und 18 Dollar gingen in Rauch auf.“ Im Regelwerk einer säkularen Event-Kultur – und die schwule Welt ist zu einem Großteil eine eben solche – sind der faule Zauber und das verführerische Blendwerk Alltag. Der wahre Zauber bleibt die Ausnahme. Gerade deshalb sollten wir uns die Gabe erhalten, ihn zu bemerken, wenn er sich vollzieht. / ©RH
Welche zauberhaften Momente hält die schwule Welt für dich bereit? Oder erweist sie sich als großer Spuk? Ich freue mich über Kommentare, von Botschaften aus dem Jenseits bitte ich abzusehen!